Wie ich mich brutal abgrenze, weil ich abgrenzen nie gelernt habe.
Abgrenzen lernen stand nie auf unserem Lehrplan.
Dabei bekommen wir tägliche Winks mit dem Laternenpfahl, doch wir wollen es nicht wahrhaben.
„Das steht uns nicht zu“, ist unsere tiefste Überzeugung.
Vom ständigen „Ja“ zum plötzlichen „Nein“.
Ich erinnere mich an diesen Moment noch genau:
Es war ein Abend wie viele zuvor – mein Partner war liebevoll, zugewandt, voller Ideen für unser gemeinsames Wochenende.
Und ich?
Ich spürte plötzlich einen Druck in der Brust.
Ein diffuses Unwohlsein.
Und den Gedanken: „Ich brauche Ruhe. Ich kann nicht mehr.“
Ohne viel Erklärung sagte ich:
„Ich glaube, ich brauche mal ein paar Tage für mich.“
Er schaute irritiert.
„Ist etwas passiert?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin einfach leer.“
Was er nicht wusste:
Ich hatte mich in den letzten Wochen überangepasst, hatte Ja gesagt, obwohl ich Nein meinte, war mitgegangen, obwohl ich zurückbleiben wollte.
Und jetzt grenzte ich mich ab – nicht klar, nicht liebevoll, nicht verbunden.
Sondern hart, plötzlich, abweisend.
Weil ich es nicht anders gelernt hatte.
Weil ich nur durch Distanz wieder ich selbst wurde.
Weil ich nie gelernt hatte, mich frühzeitig und liebevoll abzugrenzen.
Was steckt wirklich hinter dem plötzlichen Rückzug?
Menschen mit Bindungsangst oder einer „Anpassungsallergie“ haben oft ein tiefes Grundmuster:
Nähe = Verlust der Autonomie.
Anpassung = Aufgabe des Selbst.
Was zunächst aussieht wie emotionale Kälte oder Rückzug, ist häufig ein inneres Alarmsignal.
Wenn wir über längere Zeit nicht für unsere Grenzen eintreten – sei es aus Angst vor Ablehnung, Konflikten oder weil wir es nie gelernt haben –
dann holen sich diese Grenzen irgendwann Raum.
Aber eben nicht durch Worte, sondern durch Verhalten:
- Rückzug
- emotionale Kälte
- plötzlicher Kontaktabbruch
- Streit als Distanzmittel
Und das Tragische:
Die eigentliche Sehnsucht nach Nähe bleibt ungestillt.
Denn statt in Beziehung zu gehen, ziehen wir uns zurück –
aus Selbstschutz.
Aus Überforderung.
Und oft aus Scham.
Checkliste: Arten der passiven und aktiven Abgrenzung
| Passive Abgrenzung | Aktive (oft destruktive) Abgrenzung |
| Rückzug ohne Erklärung | Streit provozieren, um Abstand zu schaffen |
| emotionale Taubheit | plötzlicher Kontaktabbruch |
| Beschäftigt-Sein (Arbeit, Hobbys, Social Media) | Ironie, Zynismus, Spott |
| Vergessen von Verabredungen | Kühle, verletzende Sprache |
| Körpersprache: verschlossen, abgewandt | Dauerhafte Distanzierung als „Strafe“ |
All das hat eine Ursache:
Ein Mensch, der nicht gelernt hat, sich selbst und seinen Raum ernst zu nehmen,
wird versuchen, sich Raum zu verschaffen – oft erst dann, wenn es zu spät ist.
Wenn er wenig Kontakt zu eigenen Bedürfnissen und Gefühlen hat, verbunden mit der Überzeugung, nicht gut genug zu sein, führt das zu folgenschweren Handlungen.
Bei Bindungsängstlichen
Er geht zu lange über seine Grenzen und Bedürfnisse, um für den Partner „gut genug“ zu sein.
Erst wenn das Fass überläuft, grenzt er sich oft ohne Vorwarnung in der Distanz ab.
Bei Verlustängstlichen
Er geht andauernd über seine Grenzen und Bedürfnisse, um den Partner an sich zu binden.
Erst wenn der letzte Hoffnungsschimmer an der Beziehung stirbt, trennt er sich oft völlig unvorhersehbar.
Fallbeispiel: Wie ich mich ertappe – und in Beziehung bleibe
Früher hätte ich meinem Partner in dieser Situation nicht erklärt, was in mir passiert.
Ich hätte mich distanziert, innerlich Mauern hochgezogen, vielleicht sogar einen Streit vom Zaun gebrochen.
Heute läuft es anders.
Als ich wieder diesen inneren Druck spürte, sagte ich:
„Ich merke gerade, dass mir alles zu viel wird – nicht, weil du falsch bist, sondern weil ich mich selbst wieder übergangen habe.
Ich habe zu oft Ja gesagt, obwohl ich eigentlich Ruhe gebraucht hätte. Es fällt mir noch schwer, das vorher zu merken.“
Sein Blick wurde weich.
Er antwortete:
„Danke, dass du das teilst. Ich kenne das Gefühl auch. Lass uns schauen, wie wir beide Raum und Nähe gut vereinbaren können.“
Es war kein perfektes Gespräch.
Aber es war ehrlich.
Und das war der Unterschied.
Ich musste mich nicht zurückziehen.
Ich konnte in Beziehung bleiben – und trotzdem bei mir sein.
Auswege: Wie du Abgrenzen lernen kannst, ohne dich zu verlieren
- Erkenne frühzeitig dein inneres Alarmsystem
Du spürst Spannung im Körper, wirst gereizt, innerlich leer? Das sind erste Hinweise auf übergangene Grenzen. - Sprich über dich – nicht gegen den anderen
Sag: „Ich merke, ich brauche gerade…“ statt „Du überforderst mich.“ - Übe Mikro-Abgrenzung im Alltag
Sag kleine, ehrliche Neins:
- „Ich bin gerade nicht aufnahmefähig.“
- „Ich brauche eine Pause.“
So vermeidest du spätere Explosionen.
- Erkenne deine Anpassungsstrategien
Schreib dir auf, in welchen Situationen du automatisch funktionierst – und wie du stattdessen reagieren möchtest. - Übernimm Verantwortung
Verstehe, dass du selbst deine Bedürfnisse übergehst, und nicht dein Partner. Sobald du begreifst, dass du jederzeit sagen könntet was du dir wünschst, Verändert sich die Perspektive. - Hol dir Unterstützung
Coaching oder therapeutische Begleitung kann helfen, deine Bedürfnisse zu erforschen, Grenzen zu setzen – und dabei in Verbindung zu bleiben.
Fazit: Abgrenzen lernen heißt nicht trennen – sondern sich zeigen
Viele Bindungsängstliche und Verlustängstliche glauben:
Grenzen setzen bedeutet die Beziehung zu gefährden.
Doch das Gegenteil ist der Fall:
Wenn du dich nicht zeigst, wirst du innerlich unsichtbar.
Und dann musst du irgendwann gehen, obwohl du bleiben willst.
Abgrenzen lernen heißt:
Sich selbst genug wertzuschätzen, um bei sich zu bleiben –
und gleichzeitig den Mut zu haben, sich dem anderen zuzumuten.
Ehrlich.
Unperfekt.
Und menschlich.
So entsteht echte Nähe.
Nicht durch Verschmelzung, sondern durch bewusste Verbindung.
Dein Uwe
P.S. Zu vielen Themen gebe ich ganz private Einblicke in mein Leben und mein Learning. Falls dich das interessiert, lies unter dem roten Button weiter…
Wie das Thema der Woche mich betrifft
Ich habe viel zu lange geglaubt, dass „Beziehung“ bedeutet, den anderen glücklich zu machen. Und weil das langfristig nicht funktionieren kann, dachte ich, dass ich beziehungsunfähig bin. Denn am Ende waren stets wir beide unglücklich.
Mit jedem Streit, jeder Zurückweisung, mit jeder Trennung bewies ich mir, dass ich nicht gut genug bin. Mit jeder Gelegenheit, bei der ich meine eigenen Bedürfnisse zugunsten der Harmonie verriet, spiegelte ich meinem Unterbewusstsein, dass alles andere wichtiger ist als ich.
Grenzen zu setzen, mich mit meinen Bedürfnissen zu zeigen oder jemandem zur Last zu fallen, stand mir nicht zu. Wie sollte das auch gehen, wenn ich kaum Kontakt zu meinen Bedürfnissen und Gefühlen habe?
Ich wusste oft, dass hier etwas falsch läuft, aber ich wusste nur selten, was ich mir stattdessen wünsche. Ich war frustriert, passiv-aggressiv und voller Schamgefühle. Was stimmt nur nicht mit mir?
Ein neuer Weg
Irgendwann begriff ich, was mit diesem Satz gemeint ist, der mir dauernd begegnete. „Wer sich selbst nicht liebt, kann auch keinen anderen lieben“. Ich interpretierte ihn auf diese Weise: „Solange ich mich selbst ablehne, kann ich nicht glauben, dass meine Freundin mich ohne Bedingung annimmt“. Folglich muss ich andauernd diese Bedingung erfüllen. Ich stelle sie über mich bzw. ordne mich ihr unter.
Doch was bedeutet das – mich selbst lieben? Für mich bedeutete das, Selbstverantwortung zu übernehmen. Tatsächlich wusste ich seit Langem, dass sich niemand um mich kümmert, wenn ich es nicht selbst tue. Das hatte ich schon als Kleinkind interpretiert. Demnach musste ich nur noch das Abgrenzen lernen.
Ich konnte ganz gut für mich sorgen und mich an die erste Stelle stellen, solange es kein Gegenüber gab. Doch sobald da jemand war, dem ich gefallen wollte, spielten meine Bedürfnisse keine Rolle mehr. Also nutzte ich die Zeit gut, in der niemand da war. Ich horchte in mich hinein, und verband mich Stück für Stück besser mit meinen Bedürfnissen und Gefühlen.
Ich machte die Erfahrung, dass ich selbstwirksam bin – dass ich großen Einfluss darauf habe, ob es mir gut geht oder schlecht. „Mich glücklich machen“ war etwas, was meine Freundinnen nicht vermochten, zum einen, weil ich selbst nicht wusste, was mir guttut, und zum anderen, weil das mein Job ist.
Grenzen setzen, also Abgrenzen lernen, bedeutet demnach, zu mir zu stehen, auch wenn ich in einer Partnerschaft bin. Mich mit meinen Bedürfnissen zu zeigen, Stoppschilder aufzustellen und „Nein“ zu sagen, wenn ich „Nein“ meine.
Und wenn ich erst mal weiß, was ich will oder was mir guttut, kann ich das auch ehrlich kommunizieren. Und zwar sobald es mir auffällt, und nicht erst dann, wenn es mir zu viel wird. Abgrenzen lernen ist entgegen meiner früheren Befürchtung kein Konflikt, sondern lediglich sich zeigen.
Reflexion
Wann wagst du es nicht zu sagen, dass du dir etwas anders wünschst?
Weißt du, was du willst, oder nur, was dich stört?
Wie könntest du es herausfinden?
Wie könntest du im „Hier und Jetzt“ zu dir stehen?
Glaubst du, Grenzen setzen heißt Konflikt oder führt zu Zurückweisung?
Mach dir deine Beziehung schön,
Dein Uwe
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Themenstruktur "Bindungsangst"
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