Warum du plötzlich traurig bist – obwohl du glücklich warst
Lisa war richtig gut drauf. Es war Freitagabend, sie hatte Essen gekocht, Kerzen angezündet, sich auf einen gemütlichen Abend mit ihrem Freund Jonas gefreut. Als er dann nach Hause kam, war seine Stimmung angespannt und lethargisch. Er sagte kaum etwas, ließ sich müde aufs Sofa fallen und war für nichts zu motivieren.
Lisa spürte, wie sich in ihr etwas veränderte. Plötzlich war auch sie gereizt, traurig, angespannt. Seine Stimmung steckte sie an, und der Abend endete mit einem Streit und Vorwürfen – obwohl nichts Konkretes vorgefallen war.
Am nächsten Tag fragte sie sich: Warum fühle ich mich immer so, wie er sich fühlt? Warum zieht mich seine schlechte Laune so runter?
Was Lisa erlebt hat, ist kein Einzelfall. Es ist ein Phänomen, das viele Paare kennen – emotionale Ansteckung.
Exkurs: Was ist emotionale Ansteckung?
Emotionale Ansteckung ist ein unbewusster Prozess, bei dem wir die Gefühle anderer übernehmen – besonders von nahestehenden Menschen wie Partnern.
Das bedeutet:
- Du spürst Traurigkeit, obwohl du keinen Grund dafür hast.
- Du wirst nervös, weil dein Partner angespannt ist.
- Du wirst distanziert, weil dein Gegenüber sich emotional zurückzieht.
Es ist, als ob sich seine Stimmung überträgt – wie ein innerer Virus, der dich infiziert, bevor du es bemerkst.
Emotional verbunden zu sein ist schön. Aber wenn du nicht mehr weißt, was du fühlst und welche Gefühle zu ihm gehören – dann wird emotionale Nähe leicht zum Beziehungskiller.
Während wir bei Empathie bewusst mitfühlen und verstehend nacherleben, ohne die Emotion zu unserer zu machen, verfallen wir in der emotionalen Ansteckung unbewusst selbst in das entsprechende Gefühl.
Insbesondere bei längeren depressiven Verstimmungen eines Partners besteht die Gefahr, dass sich beide gegenseitig in die Passivität ziehen. Es ist leider so, dass wir uns viel leichter von Menschen mit weniger Energie herunterziehen lassen, als uns an positiv gestimmten Menschen aufzumuntern.
Auch andere Gefühle wie Angst, Ohnmacht oder Scham sind auf lange Sicht ansteckend. Der Einfluss unseres näheren Umfeldes färbt unbewusst ab, wobei wir abwärts empfänglicher sind als aufwärts. Deine Wahrnehmung verändert sich, wenn das Weltbild deines Partners stark negativer geprägt ist als deines.
„Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (Nietzsche)
Die gefährliche Dynamik bei Bindungs- und Verlustangst
In Beziehungen, in denen Bindungsangst und Verlustangst aufeinandertreffen, verstärkt emotionale Ansteckung unbewusst die Dynamik – haben wir doch früh gelernt, dass wir für das Wohlergehen unserer Bindungsperson verantwortlich sind. Unsicherheit und Selbstzweifel verstärken die Abwärtsspirale:
Beispiel 1:
Der bindungsängstliche Partner zieht sich zurück, wird kalt, vermeidend – weil Nähe ihn überfordert.
→ Der verlustängstliche Partner fühlt sich plötzlich innerlich leer, hilflos – und sucht vermehrt nach Nähe.
Beispiel 2:
Der verlustängstliche Partner wird traurig, klammert, bittet um mehr Verbindung.
→ Der bindungsängstliche Partner spürt unbewusst die emotionale Erwartung – und reagiert mit Flucht.
Angst, Sprachlosigkeit, Selbstzweifel und Ohnmacht sind die ansteckenden Gefühle dieser Konstellation. Das emotionale Gleichgewicht geht verloren. Jeder übernimmt die unausgesprochenen Gefühle des anderen – und verliert dabei sich selbst.
Warum passiert das?
Hochsensible, empathische Menschen – und vor allem verlustängstliche – haben ein besonders feines Gespür für Stimmungen. Sie „scannen“ unbewusst das emotionale Klima, um frühzeitig Gefahren zu erkennen.
Dieses Muster stammt oft aus der Kindheit:
„Wenn Mama traurig ist, muss ich still sein.“
„Wenn Papa wütend ist, ist es meine Schuld.“
„Wenn meine Eltern streiten, sorge ich für Harmonie.“
Heute bedeutet das:
Du fühlst dich für die Stimmung deines Partners verantwortlich – und reagierst, bevor du dich selbst fühlst.
Deine Fühler sind zu lang, um in dich selbst hineinzuhören. Der Zugang zu eigenen Bedürfnissen und Gefühlen ist verkümmert. Da bindungsängstliche und verlustängstliche Menschen emotional wankelmütig sind, um sich leichter anpassen zu können, sind sie besonders empfänglich für emotionale Ansteckung.
Warnzeichen für ungesunde emotionale Ansteckung
- Du bist nur gut drauf, wenn dein Partner es auch ist.
- Du fühlst dich emotional ausgelaugt, ohne zu wissen, warum.
- Du passt deine Stimmung automatisch an, um Konflikte zu vermeiden.
- Du verlierst deine eigene emotionale Wahrheit.
- Du übernimmst Schuldgefühle, die gar nicht zu dir gehören.
6 Wege, um emotionale Ansteckung zu stoppen
1. Erkenne den Moment
Halte inne, wenn du plötzlich gereizt oder traurig bist. Frage dich: Ist das wirklich mein Gefühl – oder habe ich es übernommen?
2. Atme dich zurück zu dir
Klingt simpel – ist aber wirkungsvoll. Drei tiefe und bewusste Atemzüge bringen dich zurück in deinen Körper.
3. Benenne, was du wahrnimmst
Sag Sätze wie: „Ich spüre, dass du gerade angespannt bist. Ich will verstehen, was los ist – ohne es gleich mitzutragen.“
4. Verantwortung abgeben
Du bist nicht zuständig für die Gefühle deines Partners. Du darfst mitfühlen – aber musst nicht mitleiden.
5. Stille üben
Gib dir Raum für dich. Führe ein Stimmungstagebuch. Nimm bewusst wahr: Wie geht es mir eigentlich, wenn ich allein bin?
6. Grenzen setzen
Wenn du merkst, dass du dich in der Stimmung deines Partners verlierst, darfst du dir Abstand nehmen – liebevoll, aber klar.
Checkliste: Gesunde emotionale Verbindung statt Ansteckung
Beobachtung | Gesund | Ungesund |
Die Stimmung des Partners beeinflusst dich | Du bleibst in deiner Klarheit | Du passt dich automatisch an |
Emotionale Gespräche | Offen, ehrlich, mit gegenseitigem Raum | Vorwürfe, Rückzug, Stimmungsschwankung |
Empathie | Mitgefühl ohne Selbstverlust | Mitleiden, Helferrolle |
Nähe | Verbindend, wohltuend | Erdrückend, auslaugend |
Verantwortung | Jeder ist für sich verantwortlich | Du bist schuld |
Fazit: Nähe braucht Klarheit – auch emotional
Emotionale Nähe ist kein Selbstverlust. Wenn du deine Gefühle nicht mehr von denen deines Partners unterscheiden kannst, verlierst du dich – und damit die echte Verbindung.
Beziehungen heilen nicht durch Anpassen – sondern durch Echtheit. Liebe und Verständnis allein heilt nicht. Lerne, bei dir zu bleiben. Dann wirst du staunen, wie viel Nähe möglich wird, ohne dich zu verlieren.
Dein Uwe
P.S. Zu vielen Themen gebe ich ganz private Einblicke in mein Leben und mein Learning. Falls dich das interessiert, lies unter dem roten Button weiter …
Wie das Thema der Woche mich betrifft
Obwohl ich mehr bindungsängstliche als verlustängstliche Anteile in mir trage, ist emotionale Ansteckung auch ein Thema für mich.
Der Ursprung zwischen den beiden Ausprägungen ist der gleiche – geringer Selbstwert und das Gefühl nicht genug zu sein. Dies begünstigt eine hohe Anpassungsbereitschaft, selbst, wenn ich augenscheinlich dagegen rebelliere.
Rückblickend kann ich erkennen, dass ich in keiner meiner vergangenen Beziehungen „ich selbst“ war. In jeder Partnerschaft habe ich wie ein Chamäleon die Farbe meiner jeweiligen Partnerin angenommen.
Das betraf das Temperament, den Dialekt und Wortschatz, die Gewohnheiten und auch die grundlegende Stimmung. Teilweise übernahm ich sogar ihr Weltbild.
Weil ich in mir selbst keinen Halt fand, suchte ich ihn bei meiner Partnerin und erschuf damit eine Abhängigkeit. Wie in meiner Kindheit konnte ich nur glücklich sein, wenn mein Umfeld glücklich ist.
Ich definierte meine Identität
Erst als ich konkret reflektiert habe, wer ich wirklich bin, und was mich ausmacht, erschuf ich mir sowohl ein Leben, das zu mir passt, als auch eine Identität, die meine eigene ist. Es ist nicht das Gleiche, ob ich weiß, was ich nicht will, bzw. nicht sein will, oder ob ich eine klare Vorstellung davon habe, wer ich bin und was ich will.
Zu meiner Identität gehört auch, dass ich mich emotional abgrenzen kann, wenn dies erforderlich ist. Auf Deutsch: wenn ich selbst für mein Glück und meine emotionale Verfassung verantwortlich bin, gilt das auch für alle anderen Menschen.
Wie andere mit mir umgehen, oder in welcher Stimmung sie sind, hat nichts mit mir zu tun. Ich kann das bei ihnen lassen, ohne mich angegriffen zu fühlen oder ihre Wahrheit infrage zu stellen. Bestenfalls biete ich eine andere Perspektive an.
Ich fühle mit, ohne mir das Gefühl anzueignen. Ein riesiger Schritt für mich, und auch für sämtliche meiner Beziehungen – vom Partner bis zum Kassierer. Doch auch hier ist es hilfreich nachzufragen, statt wie gewohnt zu interpretieren. Das gelingt mir noch nicht immer, aber ich bleibe dran.
Ist deine Stimmung abhängig von deinem Umfeld?
Weißt du, wer und wie du bist?
Fühlst du mit, oder steckst du dich emotional an?
Ist das nützlich für dich und deine Beziehungen?
Mach dir deine Beziehung schön,
Dein Uwe
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Themenstruktur "Bindungsangst"
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