
Warum wir die Verantwortung für destruktive Beziehungen übernehmen
„Es liegt an mir!“ Viele Menschen mit Bindungsangst kennen dieses Muster. In ungesundenen Beziehung übernehmen sie immer wieder die volle Verantwortung für das destruktive Verhalten ihres Partners, und scheitern daran, den ersehnten Wandel herbeizuführen. Die innere Überzeugung lautet: „Wenn ich mich nur genug anstrenge, wird es besser.“ Was wie Selbstkritik aussieht, ist tatsächlich ein Versuch, die Kontrolle über die Bindung zu behalten. Denn solange ich derjenige bin, der „nicht genug“ ist, kann ich auch daran glauben, dass ich alles ändern kann – wenn ich mich nur genug verbiege.
Die Wurzeln: Was wir als Kinder gelernt haben
Dieses Muster, sich selbst als den Fehler in der Beziehung zu sehen, hat oft tief verwurzelte Ursprünge:
Liebe und Leistung verknüpfen
Kinder von emotional distanzierten oder ambivalenten Eltern erleben oft, dass Liebe keine konstante Größe ist. Stattdessen wird sie an Bedingungen geknüpft: „Ich werde gesehen, wenn ich gut bin“, oder „Wenn ich alles recht mache, wird Mama oder Papa mich lieben.“ Diese Prägung wirkt auch im Erwachsenenalter weiter und zeigt sich besonders in Beziehungen.
Kontrolle über die Bindung behalten
Für ein Kind ist es unerträglich, sich der Liebe der Eltern völlig ausgeliefert zu fühlen. Wenn die Beziehung schwierig ist, nehmen Kinder instinktiv die Schuld auf sich. Es ist einfacher zu glauben, „es liegt an mir“, als dass Mama oder Papa unfähig oder lieblos sind. Egal wie schlecht ich behandelt werde – „ich habe es verdient“, ist leichter zu ertragen, als existentiell von Menschen abhängig zu sein, die nicht für mich sorgen können.
Die Überzeugung, „es liegt an mir!“, und die Schuldübernahme dient der Illusion von Kontrolle – eine Illusion, die wir später in unseren romantischen Beziehungen wiederholen.
Das Bild der Selbstaufgabe
Kinder von unsicheren Bindungspersonen lernen, dass sie eigene Wünsche und Bedürfnisse zurückstellen müssen, um den Frieden zu wahren, oder nicht abgelehnt zu werden. Diese Rolle nehmen sie später auch in Liebesbeziehungen ein.
Beispiele: Der Kreislauf der Selbstaufgabe
Maria und Daniel
Maria ist seit drei Jahren mit Daniel zusammen, welcher häufig abwertend und emotional distanziert ist. Wenn er tagelang nicht antwortet, sucht Maria die Schuld bei sich. „Vielleicht hätte ich netter sein sollen“, denkt sie. „Wenn ich mich mehr bemühe, wird er sich ändern – es liegt an mir.“ Maria hat Angst, ihre Bedürfnisse anzusprechen, weil sie glaubt, dies könnte ihn nur noch mehr von ihr wegtreiben.
Thomas und Lea
Thomas ist in einer Beziehung mit Lea, die ihn oft für ihre eigenen Fehler verantwortlich macht. Er entschuldigt sich regelmäßig für Dinge, die er nicht verursacht hat, in der Hoffnung, Konflikte zu vermeiden. Obwohl er sich oft schlecht behandelt fühlt, bleibt er, weil er glaubt, dass es an ihm liegt, und er sie mit genug Geduld und Verständnis „retten“ kann.
Warum wir uns an ungesunde Beziehungen klammern
Die Hoffnung auf Veränderung
Indem wir die Schuld bei uns suchen, halten wir die Hoffnung aufrecht, dass wir den Partner „heilen“ können. „Es liegt an mir“, schenkt ein trügerisches Gefühl von Kontrolle – auch wenn es uns innerlich zerstört.
Die Angst vor Ablehnung
Für bindungsängstliche Menschen ist die Vorstellung, den Partner loszulassen, oft unerträglicher als die Schmerzen, die die Beziehung verursacht. Lieber bleiben sie, passen sich an und tragen die gesamte Verantwortung, als sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, verlassen zu werden.
Die Reinszenierung von Kindheitserfahrungen
Das Muster, die Schuld auf sich zu nehmen, und zu glauben, „es liegt an mir“, ist ein vertrauter Mechanismus aus der Kindheit. Indem wir uns in Beziehungen so verhalten, wie wir es gelernt haben, fühlen wir uns in einer bizarren Weise sicher – auch wenn es uns schadet.
Keine greifbaren inneren Werte
Wenn wir uns selbst nicht mehr fühlen, weil wir uns der Bindung wegen von unseren Gefühlen und Bedürfnissen getrennt haben, ist es undenkbar, uns wirksam abzugrenzen. Die Hoffnung steht der dafür notwendigen Wut im Wege.
Auswege: Wie du dich von der Illusion „es liegt an mir!“ befreist
Selbsterkenntnis fördern
Der erste Schritt ist, das Muster zu erkennen. Frag dich: „Wann habe ich begonnen, die Schuld für das Verhalten anderer auf mich zu nehmen? Wie dient mir diese Rolle heute?“ Und wovor beschützt sie mich, wenn ich daran festhalte?
Deine Bedürfnisse ernst nehmen
Setze klare Grenzen und erlaube dir, eigene Wünsche zu haben. Das bedeutet nicht, egoistisch zu sein – es ist ein Zeichen von Selbstrespekt. Fange mit Vorlieben oder kleineren Bedürfnissen an, und beobachte was passiert.
Den Schmerz der Wahrheit zulassen
Es ist schmerzhaft zu akzeptieren, dass wir eine Beziehung nicht allein retten können. Doch nur wenn wir diese Wahrheit annehmen, können wir aus dem Kreislauf der Selbstaufgabe aussteigen. Sobald wir anerkennen, dass wir nicht der Fehler sind, wird sich die Wahrheit offenbaren.
Verantwortung abgeben
Dein Partner trägt genauso viel Verantwortung für die Bindung wie du. Alleine kannst du die Beziehung nicht stemmen. Erst wenn du diese Hoffnung, und den Glauben – „es liegt an mir!“ – aufgibst, entsteht Raum für echte Intimität – oder für den Mut zur Veränderung.
Kontrolle abgeben
Solange wir die Überzeugung nicht ablegen, selbst der Fehler zu sein, beschützen wir unbewusst die Bindung zu unseren Eltern. Zu akzeptieren, dass die Eltern damals schlimme Fehler gemacht haben, löst in bindungsängstlichen Menschen meist existentielle Angst aus. Sie würden aus der lähmenden Hoffnung in die aktive Wut kommen, und die ist für viele von uns nicht erlaubt. Doch bedenke – welchen Fehler könntest du als neugeborenes Kind gehabt haben, um die Liebe zu dir an Bedingungen zu knüpfen?
Alte Glaubenssätze hinterfragen
„Ich bin nur liebenswert, wenn ich angepasst und perfekt bin.“ Solche Sätze haben uns einst beschützt, aber heute hindern sie uns daran, gesunde Beziehungen zu führen. „Es liegt an mir!“ kann niemals die ganze Wahrheit sein. In einem Coaching-Prozess kannst du lernen, diese Glaubenssätze zu ersetzen.
Professionelle Unterstützung
Ein erfahrener Coach hilft dir, die tieferen Ursachen deiner Muster zu beleuchten und Wege zu einem stärkeren Selbstwertgefühl zu finden.Denn je wertvoller du dich in deiner Partnerschaft fühlst, desto weniger liegt es an dir.
Fazit: Verbiegen ist keine Liebe
Je mehr wir uns selbst verleugnen, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten, desto weiter entfernen wir uns von uns selbst. Das Paradoxe ist: Wenn wir uns die Schuld geben, haben wir das Gefühl, die Situation im Griff zu haben – doch in Wahrheit verlieren wir uns. Liebe kann nur dann wachsen, wenn wir sie aus der Selbstannahme heraus erleben, nicht aus der Angst, alles falsch zu machen.
Es ist Zeit, dich zu fragen, „willst du dich weiter verbiegen – oder möchtest du endlich so geliebt werden, wie du bist?“ „Es liegt an dir!“ – ist das wirklich wahr?
Dein Uwe
P.S. Zu vielen Themen gebe ich ganz private Einblicke in mein Leben und mein Learning. Falls dich das interessiert klicke unten auf den roten Button „+ Wie das Thema der Woche mich betrifft“
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Lieber Uwe, danke für den Post. Und was auf individueller Ebene gilt, das gilt auch auf der gesellschaftlichen. Bildung, Selbstbewusstsein, in die eigene Energie kommen, Grenzen setzen, so überwinden wir Herrschaftssysteme, die nur einigen Menschen dienen, auf Kosten der anderen … Ich wünsche mir sehr Augenhöhe, Verbundenheit Und Vielfalt, doch der Weg dahin ist richtig, aber nicht bequem, da er nur über Konflikte geht. Viele liebe Grüße Valentina
Liebe Valentina,
Ich danke dir von Herzen für deine Ergänzung. Aus Anpassung und Selbstaufgabe kann keine Augenhöhe entstehen. Nicht in der Politik, nicht in der Gesellschaft, nicht in oft selbsterschaffenen Hierarchien, und nicht in sozialen Kontexten wie Familie, Partnerschaft und Freundschaft.
Der Mut, zu sich selbst zu stehen braucht zunächst ein stabiles Selbst. Um effektiv Grenzen zu setzen brauchen wir einen sicheren Standpunkt. Von dort aus werden Konflikte im friedlichen Miteinander gelöst, und nicht in kontrollsüchtigen Machtspielchen. Der Weg dorthin ist einfach, aber nicht leicht.
Viele Liebe Grüße zurück,
Uwe