Jeder Mensch hat in seiner Angst immer recht!
Es ist faszinierend – wie oft wir uns in Beziehungen wiederfinden, in denen wir mit unserem Partner scheinbar nicht auf einen Nenner kommen. Du bist fest davon überzeugt, dass du richtig liegst und dass deine Wahrheit unumstößlich ist. Doch dein Partner beharrt auf seiner eigenen Wahrheit, und ihr beide habt das Gefühl, aneinander vorbeizureden. Eure Welten scheinen nicht kompatibel zu sein. Der Grund dafür liegt oft tiefer, als es auf den ersten Blick scheint. Denn jeder Mensch ist gefangen in seinem eigenen Angstsystem, und glaubt fest daran, dass seine Wahrnehmung die einzige und objektive Wahrheit ist.
„Wir Menschen glauben alles zu wissen, und wissen dabei nicht, dass wir das meiste davon nur glauben!“ Dieser Satz fasst es unglaublich prägnant zusammen. Denn das wovor wir Angst haben ist selten die Sache oder der Umstand an sich, sondern die Story, die wir uns dazu erzählen. Diese Story ist geformt aus unseren subjektiven Wahrnehmungen, Erfahrungen, Kränkungen und Unsicherheiten. Dazu kommt unser Weltbild aus unseren familiären Prägungen– wie ein Mensch oder eine Beziehung zu sein hat– was „man“ tut und was „man“ auf jeden Fall vermeiden sollte, bzw. die Überzeugung was passieren wird, wenn „man“ dies tut oder jenes geschieht.
Nichts davon ist objektiv, und doch fühlt es sich für jeden einzelnen so an. Selbst wenn wir vor der gleiche Sache Angst haben, (z.B. Verletzt zu werden) können unsere Überzeugungen, wie darauf zu reagieren ist, vollkommen voneinander abweichen, oder sogar entgegengesetzt wirken. Wie also, können diese inkompatiblen Welten zusammenfinden?
Wie das Angstsystem unsere Realität formt
Unser Angstsystem ist ein unsichtbares Netz, das sich über unser ganzes Leben legt. Es hat sich wie oben beschrieben aus Erfahrungen, Prägungen und alten Wunden gebildet, die wir meist tief in uns tragen. Dieses Netz beeinflusst, wie wir die Welt sehen, wie wir handeln, und vor allem, wie wir auf andere reagieren – besonders in Beziehungen.
Stell dir vor, du hast in deiner Kindheit oft erlebt, dass Liebe an Bedingungen geknüpft war. Du hast gelernt, dass Nähe gefährlich sein kann, weil sie Verletzungen mit sich bringt, und du nicht „du selbst“ sein darfst, wenn du geliebt werden willst. Dein Angstsystem hat sich darauf eingestellt, dich zu schützen. Es warnt dich, sobald jemand zu nah kommt, und flüstert dir zu, dass es sicherer ist, Distanz zu wahren. Wenn dann in deiner Beziehung Situationen auftreten, in denen du dich unwohl oder bedroht fühlst, schlägt dein Angstsystem Alarm. In diesem Moment ist für dich klar: Du hast recht, dein Partner ist die Bedrohung, und es ist nur vernünftig, dich zurückzuziehen oder zu rebellieren.
Beispiele aus dem Alltag
Der Streit über Freiräume:
Anna und Marc sind seit zwei Jahren zusammen. Anna liebt es, Zeit mit Marc zu verbringen, und braucht die Nähe um sich geliebt zu fühlen. Marc hingegen benötigt regelmäßig Zeit für sich, um nicht das Gefühl zu haben, erdrückt zu werden. Annas Angstsystem schreit auf, sobald Marc sich zurückzieht – in ihren Augen signalisiert das Ablehnung und Zurückweisung. Für Marc ist es jedoch überlebenswichtig seine Freiräume zu haben, weil er sich sonst in der Beziehung verliert. Beide haben in ihrem eigenen Angstsystem recht, doch sie sehen nicht, dass ihre Wahrnehmungen von alten Ängsten gesteuert werden.
Die Diskussion um Vertrauen:
Tobias hat in seiner letzten Beziehung schmerzhafte Erfahrungen mit Untreue gemacht. Jetzt, in seiner neuen Beziehung, ist er extrem misstrauisch, obwohl seine Partnerin Lara ihm keinen Grund dazu gibt. Lara fühlt sich ständig unter Beobachtung, was sie mehr und mehr belastet. Tobias glaubt, dass sein Misstrauen gerechtfertigt ist – schließlich hat er gelernt, dass Vertrauen schmerzlich verletzt werden kann. In Laras Angstsystem hingegen spiegelt sich die Angst wider, nie gut genug zu sein, und seine Erwartungen nicht erfüllen zu können. Sie fühlt sich durch Tobias’ Verhalten in dieser Überzeugung bestätigt. Als sie sich frustriert von ihm distanziert bestätigt sie ihm seine Überzeugung.
Die dahinterliegenden Muster und Bindungsangst
Diese Situationen zeigen uns, wie tief verwurzelte Ängste die Wahrnehmung in Beziehungen prägen. Jeder Mensch hat in seinem Angstsystem recht, weil es eine Überlebensstrategie ist, die uns vor weiteren Verletzungen schützen soll. Diese Strategien waren als Kind überlebensnotwendig, heute jedoch führen sie oft dazu, dass wir uns in Mustern verstricken die uns eher trennen als dass sie uns verbinden.
Schutzmechanismen:
Unser Angstsystem baut Mauern, um uns zu schützen. Das kann durch Rückzug, Misstrauen oder Kontrollverhalten geschehen. In dem Moment, in dem wir diese Mauern hochziehen, fühlt es sich für uns absolut richtig an – wir glauben, dass wir uns selbst schützen müssen. Doch in Wahrheit vergrößern wir die Distanz zu unserem Partner immer weiter. (Nähe Distanz Themen)
Selbsterfüllende Prophezeiungen:
Oft führt das Verhalten, das aus dem Angstsystem heraus entsteht, genau zu dem, was wir eigentlich vermeiden wollten. Tobias’ Misstrauen zum Beispiel kann dazu führen, dass Lara sich wirklich distanziert – nicht, weil sie ihn betrügen will, sondern weil sie den ständigen Druck nicht mehr aushält.
Auswege aus dem Angstsystem: Den Kreislauf durchbrechen
Der erste Schritt, um aus diesem Kreislauf auszubrechen, ist das Bewusstsein darüber, dass unsere Wahrnehmung durch unser Angstsystem gefiltert wird. Wir müssen erkennen, dass unser Gefühl von „Recht haben“ nur selten die objektive Wahrheit widerspiegelt, sondern eine Reaktion auf tiefsitzende Ängste ist.
Selbstreflexion und Achtsamkeit:
Frage dich in Momenten der Unsicherheit: „Ist das, was ich gerade fühle, wirklich eine Reaktion auf die Gegenwart, oder reagiere ich auf eine alte Wunde?“ Eine andere gute Frage in diesen Situationen ist: „Wie alt bin ich gerade, und wer steht mir gegenüber?“ Diese Achtsamkeit hilft dir, die Kontrolle über dein Angstsystem zurückzugewinnen.
Beispiel: Anna könnte sich bewusst machen, dass Marc’s Bedürfnis nach Freiraum nicht bedeutet, dass er sie weniger liebt. Sie könnte lernen, in diesen Momenten selbst für sich da zu sein, und gut für sich zu sorgen, während sie Marc den Raum zugesteht, den er braucht.
Offene Kommunikation:
Sprich über deine Ängste, aber erkenne auch an, dass sie nicht immer der Realität entsprechen. Wenn Tobias seiner Partnerin von seinen alten Wunden erzählt, ohne sie ständig zu verdächtigen, kann sie ihm besser helfen, Vertrauen aufzubauen.
Beispiel: Lara könnte Tobias auf eine Weise die er versteht versichern, dass sie für ihn da ist, während sie gleichzeitig klare Grenzen setzt, wenn sein Misstrauen überhandnimmt.
Gemeinsame Lösungen finden:
Statt darauf zu beharren, dass nur einer recht hat, könnt ihr gemeinsam Lösungen finden, die beiden Seiten gerecht werden. Das bedeutet, Kompromisse zu schließen und sich gegenseitig zu unterstützen, statt den Partner als Gegner zu sehen.
Beispiel: Marc könnte sich bewusst mehr Zeit für Anna nehmen, während Anna lernt, die Zeiten, in denen Marc seinen Freiraum braucht, für sich selbst zu nutzen. Auf diese Weise wäre der Druck aus dem System und die beiden könnten sich ohne Vorbehalt begegnen.
Fazit:
Jeder Mensch hat in seinem Angstsystem immer recht – aber das bedeutet nicht, dass diese Wahrnehmung immer zur Wahrheit in der Beziehung wird.
Unsere wahrgenommene Angst ist so alt wie wir selbst, und wir haben unsere Überzeugung im Laufe des Lebens in unzähligen Situationen bestätigt. Leider ist auch diese Bestätigung subjektiv eingefärbt, denn in all den Situationen, in denen die Angst unberechtigt gewesen wäre, haben wir die Anzeichen ausgeblendet oder umgedeutet. (Kontrollbedürfnis)
Indem wir unsere Ängste erkennen und uns bewusst machen, wie sie unser Verhalten beeinflussen, können wir den Kreislauf durchbrechen. Je mehr wir unsere unbewussten Muster ins Bewusstsein holen, desto mehr haben wir die Chance, im „erwachsenen Ich“ zu Handeln, zu Denken und zu Fühlen. So schaffen wir Raum für echte Nähe und Verbindung, die nicht (mehr) von alten Wunden und Ängsten diktiert wird.
Dein Uwe
Themenstruktur Bindungsangst
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