Kleine Helden, große Lasten: Warum Kinder mit unsicheren Eltern nie aufhören zu kämpfen
Es ist kaum vorstellbar, was Kinder alles aushalten und wie früh sie beginnen, Mechanismen zu entwickeln, um mit emotional unsicheren Eltern zurechtzukommen. Schon im Kleinkindalter erkennen Kinder intuitiv, dass Liebe und Fürsorge nicht selbstverständlich ist, wenn ihre Eltern abwesend, unzuverlässig oder emotional unberechenbar sind. Sie spüren, dass sie etwas leisten müssen, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, die sie zum Überleben brauchen. Doch was passiert, wenn die Überlebensstrategien eines Kindes zur Last des Beziehungslebens werden?
Die Entstehung von Überlebensstrategien: Ein Kind sucht nach Sicherheit
Jedes Kind braucht Sicherheit, die das Fundament für Vertrauen und Bindung legt. Kinder mit verlässlichen Eltern entwickeln im Normalfall das Gefühl, dass die Welt sicher ist und sie so, wie sie sind, akzeptiert und geliebt werden. Aber was passiert, wenn Mama oder Papa unvorhersehbar handeln – mal warm und liebevoll, dann wieder kalt und ablehnend? Oder wenn sie zu beschäftigt oder emotional abwesend sind?
Dann wird die Beziehung für das Kind zum unberechenbaren Terrain, und es entwickelt eigene Wege, um das emotionale Überleben zu sichern. Um den Elternkontakt zu sichern schreien Kinder viel, kränkeln, können nicht alleine sein oder werden unselbstständig und Verhaltensauffällig. Viel häufiger jedoch ist die Stategie des Anpassens – also lieb wie bequem zu sein und Erwartungen zu erfüllen. Wenn Mama sich freut, ist sie lieb zu mir.
Einige Beispiele, welche die kindlichen Überlebensstrategien hervorrufen wären ein niedriger Sozialstatus der Elternfamilie, andauernde Disharmonie der Eltern, Krankheiten wie Depression bzw. verminderte Verfügbarkeit der Bindungspersonen und Gewalt in körperlicher wie emotionaler Form.
Bindungsängstliche Eltern leben ihre Angst nicht nur als Mama und Papa vor, sondern vererben ihre eigenen Schutzstrategien durch ihr Verhalten. Denn die eigene Kindheit hat selbstverständlich einen großen Einfluss auf unsere Elternrolle.
Ein Beispiel:
Der kleine Lukas wird von seiner Mutter oft alleine gelassen. Er entwickelt schnell eine Strategie, um keine Angst und keinen Kummer zu zeigen, weil er merkt, dass das seine Mutter überfordert. Je stiller und pflegeleichter er ist, desto größer die Chance, dass er die Zuwendung nicht verliert. Lukas entwickelt die Überzeugung, dass seine Bedürfnisse nach Nähe und Trost nicht wichtig sind – eine Einstellung, die tief in ihm verwurzelt bleibt.
Anpassung als Überlebensstrategie – und ihre Folgen für das Erwachsenenleben
Viele Kinder in solchen Situationen entwickeln das Bedürfnis, sich besonders anzupassen. Sie lernen, die Gefühle und Bedürfnisse der Eltern zu lesen, bevor diese überhaupt ausgesprochen werden. Das Kind wird zu einer Art „Emotionsdetektiv“ und passt sich an, um Konflikte oder Ablehnung zu vermeiden. Was sich in der Kindheit als notwendige und nützliche Strategie herausbildet, entwickelt sich jedoch oft zu einem starren Muster, das im Erwachsenenleben Bindungsangst und Abhängigkeiten begünstigt.
Nehmen wir Anna:
Sie ist als Erwachsene bekannt dafür, die Bedürfnisse ihres Partners förmlich zu erahnen. Doch in ihrer Beziehung fühlt sie sich oft überfordert und fremdbestimmt, weil sie ihre eigenen Wünsche fast nie zum Ausdruck bringt. Annas Bindungsangst ist tief verankert, denn sie fürchtet, dass sie, sobald sie sich zu „unbequem“ verhält, verlassen wird – genauso wie sie es als Kind von ihrer emotional abwesenden Mutter gelernt hat.
Bindungsangst als Folge: Wenn Nähe und Liebe bedrohlich werden
Das Verlangen nach Bindung bleibt ein zentraler Wunsch für uns alle – auch für diejenigen, die in unsicheren Verhältnissen aufwuchsen. Doch gleichzeitig empfinden Menschen mit diesen Erfahrungen oft die größte Bedrohung, wenn jemand ihnen wirklich nahekommt. Die vertrauten Überlebensstrategien, wie das Unterdrücken eigener Bedürfnisse oder das Distanzieren, verhindern das Erleben echter Intimität und geben ihnen eine trügerische Kontrolle.
Ein typisches Beispiel:
Tim, der sich als Erwachsener schwer auf tiefe Beziehungen einlassen kann, fühlt sich von Menschen angezogen, die ihm emotionale Distanz bieten. So bleibt die Bindung für ihn steuerbar. Sobald jemand ihm zu nahe kommt und echte Nähe fordert, zieht Tim sich zurück, um die Kontrolle nicht zu verlieren und vermeintliche Verletzungen zu vermeiden. Seine Bindungsangst lässt ihn in einem ständigen Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz verharren, welches ihn und seine Partner erschöpft und belastet.
Die Heilung beginnt mit dem Erkennen der Muster
Der erste Schritt zur Heilung dieser tiefsitzenden Ängste ist das Bewusstmachen der eigenen Verhaltensmuster. Zu erkennen, dass das Verhalten kein Zufall ist, sondern ein Überbleibsel aus Kindheitstagen, wirkt heilsam und befreiend. Es bedeutet, dass die eigenen Ängste und Überzeugungen damals überlebensnotwendig waren, heute jedoch unnötige Hürden darstellen.
Lukas, der stille Junge, der lernte, seine Bedürfnisse zu unterdrücken, entdeckt eines Tages im Rahmen einer Therapie, dass seine Sehnsucht nach Nähe normal und gesund ist. Er lernt langsam, dass er heute als erwachsener Mann in der Lage ist, für sich einzustehen und Bedürfnisse zu äußern, ohne befürchten zu müssen, dass seine Partnerin ihn zurückweist, oder verlässt.
Neue Wege gehen: Selbstakzeptanz und die Erlaubnis zur Verletzlichkeit
Sich selbst die Erlaubnis zu geben, wieder verletzlich zu sein und alte Überzeugungen loszulassen, ist eine echte Herausforderung, aber es ist der einzige Weg, um Bindungsangst zu überwinden. Erwachsene, die als Kinder solche Überlebensstrategien entwickelt haben, können lernen, dass Nähe nicht zwangsläufig Verletzung bedeutet und dass es sicher ist, Bedürfnisse zu äußern.
Für Anna, die stets nur für andere da war, begann der Wandel in kleinen Schritten. Sie nahm sich bewusst Zeit, um ihre eigenen Wünsche wahrzunehmen und zu äußern. Der Mut, das Risiko einzugehen, in ihrer Partnerschaft eigene Grenzen zu setzen, führte dazu, dass sie sich weniger ausgeliefert und innerlich gefestigter fühlte. Es zeigte sich, dass ihr Partner sich nicht abwendete, sondern begann, Annas echte Persönlichkeit zu sehen und zu schätzen.
Fazit: Vom Überleben zum Leben auf Augenhöhe
Die Überlebensstrategien, die wir als Kinder entwickeln, sind ein beeindruckender Beweis für die Anpassungsfähigkeit der menschlichen Seele. Doch um wahrhaftig zu leben und erfüllende Beziehungen zu führen, müssen wir lernen, diese alten Mechanismen zu erkennen und loszulassen. Wir dürfen im „hier und jetzt“ darauf vertrauen, dass uns Nähe und Intimität nicht bedroht, sondern bereichern kann, sobald wir uns wirklich einlassen.
Wer sich diesem Prozess stellt, der geht den Weg vom Überleben zum Leben. Statt in alten Mustern gefangen zu bleiben, können wir lernen, uns selbst in der Beziehung zu zeigen, den anderen Menschen wirklich zu sehen und Bindung ohne Angst vor Verlust oder Überforderung zu erfahren. Ein Weg, der Mut braucht, aber mit bisher unvorstellbarer Freiheit belohnt wird – einer Freiheit, die in der ehrlichen und selbstbewussten Liebe liegt.
Dein Uwe
Wie mich dieses Thema ganz persönlich betrifft
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Was mich bewegt
Meine Überlebensstrategie als Kind war wie bei den meisten die Anpassung. In meinen frühesten Erinnerungen habe ich meinen Kummer und meine Sorgen mit einem Stofftier besprochen. Meine Überzeugung: „meine Gefühle und Bedürfnisse sind nicht wichtig“ bezogen sich schon damals auf das Zusammensein mit Bindungspersonen. Deshalb war ich so weit ich mich erinnern kann, immer gerne alleine.
Denn wenn ich alleine bin muss ich keine Erwartungen erfüllen und kann so sein wie ich bin. „Alleine“ haben meine Bedürfnisse einen Wert, und ich kann sie mir fast immer selbst erfüllen – durch Phantasie, durch Kreativität, durch hinwegsetzen über Grenzen und Verbote, durch passive Rebellion gegen Erwartungen und durch Vertrauen in mich selbst.
Letzteres kam aus der Überzeugung, es alleine schaffen zu müssen, um niemanden zur Last zu fallen. Wegen meines älteren Bruders, der vom Wesen her anstrengend war, und sehr viel Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zog, nahm ich die freie Stelle des pflegeleichten Sonnenscheins ein.
Irgendwie habe ich gespürt, dass meine Eltern schon am Limit laufen, und ich mehr Anerkennung bekomme, wenn ich unauffällig und lieb bin. Selbst wenn meine Mutter spürte, dass mich etwas bedrückte und daran teilhaben wollte, habe ich mich ihr nicht geöffnet. Je mehr sie nachgefragt hat, desto mehr verschloss ich mich.
Wenn ich meine Beziehungen so Revue passieren lasse, hat mich meine Überlebensstrategie samt ihren Glaubenssätzen bis heute begleitet. Erst als ich mir vor einigen Jahren darüber bewusst wurde, konnte ich diese Muster erkennen und ihre Nützlichkeit hinterfragen.
Dabei war das Erkennen der Muster und deren Symptome gar nicht so einfach, denn alles hat sich so wunderbar logisch und normal in mein Leben und in meine Realität eingebettet.
Ich musste alles alleine schaffen, weil ja keiner Zeit hat und alle so sehr beschäftigt sind. Davon war ich so überzeugt, dass ich nie jemanden gefragt habe.
Ich habe meine Freundinnen emotional kaum an mich rangelassen um ihnen nicht zur Last zu fallen, so dass sie sich vernachlässigt fühlten, und berechtigterweise Erwartungen nach mehr Intimität an mich richteten. Diese habe ich als Angriff auf meine Autonomie gewertet, und passiv aggressiv dagegen rebelliert.
Die meisten Erwartungen, die ich erfüllt habe, hatten gar nichts mit meinen Freundinnen zu tun, sondern mit meinen von mir selbst abgelehnten Anteilen. Dennoch hatte ich das Gefühl mich in der Beziehung zu verlieren, und war überzeugt nichts dagegen unternehmen zu können, außer es auszuhalten. In passiv aggressiver Manier fand ich Gründe und Ausreden, um meine autonomen Momente zu verlängern.
Auch meine Harmoniebedürfnis war nichts weiter als eine gute Ausrede, um mich vor Konfrontationen zu drücken. Doch jeder unausgesprochene Gedanke oder Vorwurf belastete die Beziehung hundert mal schwerer als jeder Streit.
Meine Überzeugung, dass das was mich bewegt eh niemanden interessiert, und dadurch so vieles unausgesprochen blieb, entfremdete uns voneinander. Meine Idee, dass ich damit weniger Verletzlich bin ging jedoch nach hinten los, denn natürlich interpretierten meiner Freundinnen das ungesagte auf ihre Weise. Sie deuteten das Schweigen nicht nur als Angriff auf ihren Selbstwert, sondern konstruierten eine Realität in die Stille, die weitaus zerstörerischer war, als mein scheinbar langweiliger Alltag.
Ich könnte das hier noch sehr lange fortsetzen, aber ich denke du erkennst schon jetzt, dass nichts davon nützlich für eine erfüllende Beziehung ist. Und natürlich haben meine Partnerinnen genauso unbewusst ihre eigenen unhinterfragten Überlebensstrategien mit in die Beziehung gebracht.
Das konnte nur in Drama und Leid enden, und das hat es mal früher, und mal später auch getan.
All diese Muster sind noch immer ein Teil von mir. Allerdings nehme ich sie nun wahr, und ich kann ganz anders reagieren oder damit umgehen. Ich weiß welche Folgen sie haben, und ich spreche mit meiner Partnerin darüber, so dass auch sie weiß, dass dies nicht gegen sie gerichtet ist, sondern, sondern mit mir und meinen Schutzstrategien zu tun hat. Allein diese Erkenntnis ändert unglaublich viel.
Was sind deine Überlebensstrategien?
Auf welche Weise tarnen sie sich bei dir?
Sind sie heute wirklich noch nützlich?
Themenstruktur "Bindungsangst"
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