„Gesehen werden“ um jeden Preis – warum wir uns mit destruktiven Mustern zeigen, während wir uns in Wirklichkeit verstecken.
Ich will doch einfach nur gesehen werden.
Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich wieder einmal alles auf eine Karte gesetzt habe: laute Worte, Vorwürfe, ein dramatischer Abgang. Ich wollte nur eins – gesehen werden. Stattdessen sah er nur die Wut, fühlte sich angegriffen und ging an diesem Abend noch früher ins Büro als geplant.
Im Nachhinein wirkte das albern: Ich hatte Stunden damit zugebracht, eine Reaktion zu provozieren. Ich wollte, dass er bleibt, dass er sich kümmert, dass er mich auffängt. Und doch hatte ich genau das Gegenteil erreicht.
Das Paradoxon ist so verletzend wie alt: Je mehr wir darunter leiden, nicht wirklich gesehen zu werden, desto mehr tun wir Dinge, die genau das bewirken. Gleichzeitig verstecken wir uns hinter den Aktionen, und vermeiden es, uns mit unseren Bedürfnissen oder Ängsten zu zeigen.
Das Muster hinter dem Paradox: Warum wir uns so verhalten
Wenn du Bindungsangst oder Verlustangst in dir trägst, laufen im Hintergrund drei Dinge zusammen:
- Schmerz aus der Vergangenheit. Vielleicht hast du gelernt, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist – Leistung, Anpassung, gutes Benehmen. Also spielst du eine Rolle. Und wenn die Rolle nicht reicht, drehst du auf, damit man dich nicht übersehen kann.
- Angst vor Verletzlichkeit. Echte Verletzlichkeit heißt: Du zeigst dich fragil, unsicher, unperfekt. Das fühlt sich gefährlich an und hat dir vielleicht früher Leid gebracht. Also reagierst du mit Schutzmechanismen: entweder Zurückziehen oder Überdrehen.
- Missverstandene Strategien. Du denkst: Wenn ich laut genug bin, kann ich die Aufmerksamkeit erzwingen. Wenn ich dominiere, zeigt mir der andere, dass er mich braucht. Diese Strategien liefern kurzfristig Intensität – aber keine dauerhafte Verbundenheit.
Das Ergebnis: Du wirst wahrgenommen – aber nicht wirklich gesehen.
Beispiele aus dem Alltag (die du vielleicht kennst)
- Provokation: Du fängst Streit an, um Emotion zu provozieren. Du fühlst dich lebendig – bis dein Partner flieht.
- Überanpassung: Du bist immer nett, immer verfügbar. Irgendwann schlägt das Pendel um: Du explodierst (weil sich alles angestaut hat).
- Spielchen/Tests: Du ziehst dich emotional zurück, wartest, ob dein Partner nachkommt. Wenn nicht – Drama.
- Selbstabwertung im Gespräch: Du erklärst dich klein, erwartest Trost und Annahme, doch bekommst Distanz.
- Rückzug + Ghosting: Du gehst immer wieder weg, um deinen Wert zu prüfen, oder „du selbst“ zu sein – und verlierst die Verbindung.
All diese Verhaltensweisen haben eine Gemeinsamkeit: Sie sind laute Übersetzungen einer stummen Sehnsucht. Du willst nicht nur reagieren – du willst gesehen werden. Aber du weißt nicht genau, wie du dich ohne Rüstung zeigen kannst.
Was wirklich passiert, wenn wir so handeln
Das Problem ist: Reaktionen, die aus Angst geboren werden, lösen beim Gegenüber meist Schutzreaktionen aus. Bindungsängstliche Partner erleben Forderungen als Bedrohung und Einengung; Verlustängstliche sehen die Forderung als Beweis für ihre fehlende Sicherheit und reagieren mit noch mehr Klammern. Ein Teufelskreis entsteht: Du provozierst, er zieht sich zurück, du reagierst heftiger – und ihr seid weiter weg als zuvor.
Checkliste: Was wir tun, um gesehen zu werden – und was wirklich ankommt
Was wir tun, um gesehen zu werden | Was oft wirklich ankommt |
Laut werden, Reaktionen provozieren | Bedrohung — der/die Andere fühlt sich angegriffen |
Drama inszenieren (Show, Theater) | Stress statt Nähe |
Überanpassung (alles rechtmachen wollen) | Verlust der Persönlichkeit, Unklarheit, warum du traurig bist |
Tests und Spielchen (Ignorieren, Eifersuchtstests) | Misstrauen, Distanz und Unverständnis |
Rückzug ohne Erklärung (Ghosting) | Gefühl von Ablehnung und Schuld beim Partner |
Überkompensation (Geschenke, Überfürsorge) | Gefühl, kontrolliert oder „bemuttert“ zu werden |
Selbstabwertung, Opferrolle | Mitleid, aber kein echtes Verstehen |
Verletzende Ironie oder Sarkasmus | Der/die Andere fühlt sich verletzt und verteidigt sich |
Kurz: Viele Strategien „funktionieren“ kurzfristig – sie erzeugen Reaktion –, aber sie schaffen nicht das, was du eigentlich willst: echtes, verstehendes Gesehen werden.
Wie du das Muster durchbrichst – 7 konkrete Schritte
- Nimm deinen Impuls wahr, noch bevor du handelst.
Der Impuls ist ein Signal, kein Gebot. Drei tiefe Atemzüge können genug Distanz schaffen, um nicht unbewusst und automatisch zu reagieren. - Spüre dich: Wie fühlt sich das im Körper an?
Jedes Gefühl hat sein charakteristisches Körpersymptom. Fühle und übersetze dein Unterbewusstsein. Welches Gefühl oder Bedürfnis steckt wirklich dahinter? - Frag dich: Was will ich wirklich ausdrücken?
Hinter der Provokation steckt oft: „Ich habe Angst, nicht zu zählen“ oder „Ich brauche Nähe“. Formuliere das als Ich-Botschaft. - Sprich einfache, ehrliche Sätze.
Statt: „Du redest nie mit mir!“ → „Ich fühle mich unsichtbar, wenn du nicht zurückrufst. Ich brauche eine kurze Rückmeldung.“ - Übe kleine Offenbarungen.
Verletzlichkeit braucht Training. Fang mit kleinen Wahrheiten an: „Heute bin ich unsicher.“ Beobachte, was passiert. - Lerne Repair-Rituale:
Wenn ein Streit eskaliert, geh einen Schritt zurück: „Ich brauche 30 Minuten Luft, dann reden wir – ich will dich nicht verletzen.“ Auch ein Codewort hierfür ist oft hilfreich. - Sieh dich selbst:
Solange du dich selbst übersiehst, wird dich auch dein Partner nicht wahrnehmen. Je mehr du dich selbst annimmst und für dich sorgst, desto sichtbarer wirst du für deinen Partner. - Hol dir Unterstützung:
Ein sicherer Rahmen (Coaching, Therapie, Peers) hilft dir, alte Muster zu entknoten.
Wie ich mich im Muster besinne – und mich endlich wirklich zeige
Ich hatte wieder einmal „die Show“ gestartet: Vorwürfe, Beschuldigungen, ein dramatisches „Wenn du mich liebst, dann …“. Er zog sich zurück. Ich sah, wie die Beziehung in die Defensive ging. Diesmal aber geschah etwas anderes: Bevor ich den Satz beendete, hörte ich innerlich eine leise Stimme: „Was willst du wirklich?“
Ich stoppte. Atmete. Sagte nicht mehr den pathetischen Schluss, sondern:
„Ich merke, dass ich gerade Angst habe. Ich habe Angst, dass ich dir nicht wichtig bin. Das macht mich unsicher. Es ist mein Thema – nicht dein Fehler. Kannst du mir sagen, ob du jetzt Zeit hast, mir das Gefühl zu geben, dass du mich siehst – dass ich dir etwas bedeute?“
Sein Blick veränderte sich. Er senkte den Ton, ging einen Schritt näher, nahm meine Hand. Nicht weil er gezwungen war, sondern weil ich ehrlich geworden war. Ich hatte aufgehört, mit Drama gesehen werden zu wollen – und angefangen, mich zu zeigen. Wirklich zu zeigen. Und das veränderte alles.
Fazit:
- Gesehen werden ist ein Bedürfnis – kein Vorwurf. Es verdient einen klaren Ausdruck, keine Inszenierung.
- Echtes Gesehenwerden entsteht durch Präsenz, Ehrlichkeit und Reflexion.
- Deine destruktiven Muster sind verständlich – aber trennend. Glücklicherweise sind sie veränderbar.
- Übe, dich in Wahrhaftigkeit statt Inszenierung. Kleine, wiederholte Offenbarungen bringen mehr Nähe als große Dramen.
Wenn du dich nicht gesehen fühlst, und in dein Muster fällst: erkenne deinen Impuls – und sag stattdessen in einem ruhigen Satz, was du wirklich brauchst, oder wie du dich fühlst. Du wirst überrascht sein, wie oft du dann nicht nur wahrgenommen, sondern wirklich gesehen werden kannst.
Dein Uwe
P.S. Zu vielen Themen gebe ich ganz private Einblicke in mein Leben und mein Learning. Falls dich das interessiert, lies unter dem roten Button weiter…
Wie das Thema der Woche mich betrifft
Ich hatte einige Partnerinnen, die ihren Willen mit Forderungen und Drama durchsetzen wollten. Und ich habe oberflächlich ihre Wünsche und Forderungen erfüllt, denn ich wollte ja gemocht werden. Innerlich allerdings stieg mein Groll, mich dauernd unterordnen zu müssen, und zog mich immer mehr zurück. Weg von den Erwartungen – weg vom Drama.
Ich war unglaublich kreativ, wenn es darum ging, nicht verfügbar zu sein, keine Zeit zu haben, oder Gründe zu finden, warum die Dinge noch nicht erledigt sind. Drama und offene Konfrontationen wertete ich als direkten Angriff, den ich jedoch nur selten erwiderte, sondern ins Leere laufen ließ.
Nicht um mein Gegenüber zu kränken, sondern weil ich Streit und Konfrontation nicht konnte. Ich verstummte und dachte mir meinen Teil. Je größer der Druck wurde, desto mehr machte ich zu. Das hat mein ganzes Leben funktioniert. Ich mache es mir aus. Meine Gedanken und Gefühle gebe ich nicht preis, denn das führt nur zu noch mehr Drama und Widerspruch.
Streiten oder Debattieren hatte ich nie gelernt, Wut war ja nicht erlaubt in meiner Kindheit. Es hätte meine Bezugspersonen überfordert, so meine Interpretation. Mein Part war die Anpassung – ich wollte mich nur von meiner Sonnenseite zeigen und mich ganz leicht machen. Diese Strategie behielt ich unbewusst bei.
Mein Muster, nicht greifbar zu sein, hinterließ in meinen Partnerinnen ein Gefühl der Ohnmacht und Resignation. Sie wollten eine Reaktion, ein Zeichen, dass ich anwesend bin. Doch sie bekamen meine Art, mit dieser Situation fertigzuwerden – passiv-aggressives Verhalten. Das wiederum war mein Hilfeschrei, denn ich wollte meine Autonomie, fernab von Anpassung und Druck, verteidigen.
Ein neuer Gedanke
Irgendwann erkannte ich, dass es bei all dem Drama und Stress nie um die jeweilige Sache ging. Bei meinen Freundinnen genauso wenig wie bei mir. Es ging meist darum, wahrgenommen zu werden. Wir wollten mit unserem Leid, unserem Ausdruck, und mit all dem, was uns ausmacht, gesehen werden. Doch das zu zeigen, machte uns zu viel Angst.
Stattdessen versteckten wir uns hinter Scheingefechten. Meine Partnerin mit Druck und Erwartung – ich mit Flucht und Schweigen. Wir gingen nicht in Beziehung, sondern schützten unsere Mauern. Wir sahen nur uns und unsere Wunden – den anderen sahen wir als Gegner. Wenn der andere anders wäre, dann wäre alles gut, so der irrige Gedanke.
Eine neue Entscheidung
Doch was ein anderer tut, fühlt oder denkt, kann ich kaum beeinflussen – nur mich selbst kann ich jederzeit verändern. Wie ich den anderen wahrnehme, was ich über mich denke, wie ich unser Miteinander bewerte und wie ich das Tun des anderen interpretiere. All das ist immer nur eine Entscheidung weit von uns entfernt.
Mein altes Denken, Handeln und Fühlen hat mich mit dieser Partnerin zusammengebracht, und uns an diesen schmerzhaften Punkt geführt. Demnach ist es nicht geeignet, die Beziehung zu bessern oder zu retten. Was würde also passieren, wenn ich durch die ganzen Scheingefechte hindurchblicke, und in der Partnerin statt einem Gegner eine verletzte Seele entdecke? Eine Seele, die als Kind ebenso verletzt wurde wie ich?
Worum es wirklich geht
Wenn es nicht mehr um die Sache geht – um zu viel Erwartungsdruck, um Ordnung oder Missverständnisse – wird der Blick frei, auf den geliebten Menschen. Um den Menschen, der dahintersteht – der einfach nur gesehen werden will. Mit seinen Themen, seiner Angst, seiner Unsicherheit und seinem unerfüllten Wunsch, so angenommen zu werden, wie er ist.
Genau das, was ich mir auch wünsche, und hinter nutzlos gewordenen Strategien verstecke, um gut genug zu erscheinen. Unser Ego hat Angst, entlarvt zu werden. Als jemand, der nicht perfekt ist, verletzlich ist oder verzweifelt nach einer Bestätigung sucht, die er nicht annehmen kann. Doch dieses Ego verhindert echte Verbindung. Es verhindert echte Beziehung.
Heute sehe ich hinter die offensichtlichen Themen, und starre nicht mehr wie das Kaninchen auf die Schlange. Das aktuelle Problem ist selten das Problem. Es geht darum, den Menschen dahinter zu sehen, ihn anzunehmen und zu halten. Und wie von Geisterhand wurde auch ich sichtbar, denn wenn wir uns gegenseitig sehen, werden die offensichtlichen Probleme klein.
Reflexion
Glaubst du wirklich, es ginge im Konflikt um die Sache?
Was könnte dein Gegenüber damit tatsächlich ausdrücken wollen?
Warum triggert dich dieser Konflikt so sehr, und welches Mangelgefühl könnte dahinterstecken?
Könnte es etwas verändern, wenn du dich vorwurfsfrei damit zeigst?
Mach dir deine Beziehung schön,
Dein Uwe
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Themenstruktur "Bindungsangst"
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