
Scham – Ein echt uncooles Gefühl
Du kennst das bestimmt – dieses mulmige Gefühl, das sich einschleicht, wenn es in einer Beziehung plötzlich enger wird. Alles scheint in Ordnung, und dann, ganz plötzlich, fühlst du dich unwohl. Es ist, als ob etwas in dir gegen die Nähe rebelliert. Du willst diese Person, du willst die Beziehung, und trotzdem ziehst du dich zurück. Doch warum? Was viele Menschen nicht wissen: Bindungsangst hat viel mit Scham zu tun – einem unsichtbaren, oft ausgeblendeten, aber mächtigen Gefühl, das uns immer wieder in die Verunsicherung treibt.
Was ist Scham?
Scham ist ein sehr unpopuläres Gefühl – welches wir meist ablehnen, und das scheinbar nichts mit uns zu tun hat. Doch Bindungsangst ist durchwuchert von Schamgefühlen, von Selbstzerfleischung und dem tiefen Glauben daran, nicht gut genug zu sein.
Tatsächlich gibt es kein „schlechtes Gefühl“, denn jedes Gefühl ist wertvoll und notwendig, um im sozialen Kontext zu bestehen. Die Scham ist die Kraft der Selbstreflexion – eine Innenschau mit dem Hintergrund, uns im sozialen Gefüge einzupassen, und die Rechte und Empfindungen von anderen zu schützen. Es ist das Gefühl der Selbstkorrektur und Demut. Der Ausdruck der Scham ist: Ich bin falsch! Oder als Frage: Bin ich falsch, oder in Ordnung?
Während alle anderen Gefühle auch alleine bestehen können, ist die Scham von einem Gegenüber abhängig. Deshalb kommt sie überall vor, wo wir in Beziehung gehen. In der Bindungsangst ist sie allerdings übermäßig stark ausgeprägt. In Extremform zeigt sie sich in Unterwerfung, Perfektionsstreben und Selbstzerfleischung.
Wenn Nähe Scham auslöst – und Bindungsangst die Folge ist
Stell dir vor, du bist in einer neuen Beziehung. Am Anfang läuft alles super. Ihr lacht, verbringt Zeit zusammen, alles ist leicht und unkompliziert. Doch je mehr ihr euch kennenlernt, desto stärker wird dieses leise Gefühl des Unbehagens. Es kommt nicht laut und offensichtlich, sondern schleicht sich in kleinen Momenten ein. Vielleicht sagt dein Partner etwas Nettes, etwas Liebes – und plötzlich fühlst du dich unwohl, als ob du das gar nicht verdient hättest. Dieses Gefühl heißt Scham.
Bindungsangst entsteht nicht aus dem bloßen Wunsch, frei und unabhängig zu bleiben. Vielmehr steckt dahinter oft die Angst, dass der andere dich wirklich sehen könnte – so, wie du bist. Mit all deinen Schwächen, all den Dingen, die du vielleicht nicht an dir magst.
Scham entsteht, weil wir uns selbst als „falsch“ oder „nicht genug“ empfinden und gleichzeitig Angst haben, dass unser Partner diese vermeintlichen „Fehler“ erkennt und uns ablehnt. Zusätzlich spielen unsere Bedürfnisse eine Rolle, die wir unserem Partner verschweigen, weil er uns mit diesen scheinbar unberechtigten Bedürfnissen ablehnen könnte.
Beispiel: Jana und das unbehagliche Kompliment
Jana ist seit einigen Monaten mit Max zusammen. Sie mag ihn wirklich sehr, und trotzdem spürt sie, wie sie sich immer mehr zurückzieht, je mehr er ihr Zuneigung zeigt. Wenn Max ihr Komplimente macht, fühlt sie sich innerlich unwohl. Als er ihr neulich sagte: „Du bist die tollste Frau, die ich je getroffen habe“, fühlte sich Jana, statt glücklich, plötzlich klein und irgendwie „schmutzig“. In diesem Moment stieg ein alter Glaubenssatz in ihr hoch: „Wenn er wirklich wüsste, wie ich bin, würde er das nicht sagen.“
Was Jana nicht bewusst war: Ihr Gefühl der Unwürdigkeit, die Scham, blockierte sie, die Nähe zuzulassen. Sie dachte, dass ihre Unzulänglichkeiten früher oder später entdeckt würden, und fühlte sich unwohl dabei, Max so nah an sich heranzulassen. Aus Angst, dass er sie „durchschauen“ könnte, hielt sie ihn lieber auf Distanz – und begann, sich langsam emotional von ihm zu entfernen.
Scham: Der unsichtbare Schatten in der Beziehung
Scham ist ein zutiefst unangenehmes Gefühl. Es vermittelt uns, dass wir nicht gut genug sind, dass wir es nicht wert sind, geliebt zu werden. Wenn Scham in einer Beziehung auftaucht, geschieht das oft in subtilen, fast unsichtbaren Momenten:
- Du fühlst dich verlegen, wenn dein Partner dich lobt oder dir Zuneigung zeigt.
- Du wirst nervös, wenn ihr über Gefühle oder die Zukunft sprecht.
- Du erfüllst die Erwartungen Anderer, um nicht abgelehnt zu werden.
- Du versuchst in vielen Dingen perfekt zu sein
- Du spielst die Rolle von jemanden, den du für liebenswerter hältst als dich.
- Du fängst an, dich zu distanzieren, obwohl du eigentlich Nähe möchtest.
- Du glaubst, Bedingungen erfüllen zu müssen, um angenommen und geliebt zu werden.
- Du fühlst dich schuldig, wenn dein Partner unglücklich ist.
- Du denkst, du müsstest dir deine Existenzberechtigung verdienen.
All diese Reaktionen sind Abwehrmechanismen, um dich vor dem Gefühl der Scham zu schützen. Es ist ein Teufelskreis: Je näher dein Partner dir kommt, desto größer wird das Risiko, dass er deine „Fehler“ entdeckt. Um dich davor zu schützen, ziehst du dich zurück, was wiederum die Beziehung belastet.
Warum Bindungsangst und Scham Hand in Hand gehen
Bindungsangst und Scham sind eng miteinander verbunden, weil sie beide aus einer tiefen Unsicherheit über den eigenen Wert entstehen. Bindungsängstliche Menschen haben oft die Erfahrung gemacht, dass Nähe gefährlich ist – weil sie als Kind den Schmerz der Zurückweisung erfahren haben, und sich deshalb vor der Vorstellung fürchten, dass jemand sie ganz sieht und vielleicht nicht akzeptiert.
Die Scham über vermeintliche Unzulänglichkeiten führt dazu, dass Nähe als bedrohlich empfunden wird – egal ob die Unsicherheit in der Kindheit, oder in vergangenen Beziehungen entstand. Denn Nähe, oder echtes „in Beziehung gehen“, bedeutet, dass du dich dem anderen wirklich zeigst. Und was, wenn er nicht mag, was er sieht?
Übermäßige Scham ist eine beliebte Strategie, um Konfrontationen zu vermeiden. Statt in die Wut zu gehen, und Unstimmigkeiten anzusprechen, beziehen wir den Fehler auf uns, und halten die Harmonie hoch. Dies bietet uns den scheinbar wunderbaren Ausweg aus dem Konflikt, wenn wir in uns keine Fähigkeit wahrnehmen können, uns jenem Konflikt zu stellen. Damit vermeiden wir echte Beziehung.
Beispiel: Tom und das Schweigen in der Beziehung
Tom war immer der Typ, der sich gut mit allen verstand, aber wenn es ernst wurde, begann er, sich emotional zurückzuziehen. In seiner Beziehung mit Julia lief es genauso. Anfangs waren sie unzertrennlich, aber je mehr sie ihm ihre Liebe zeigte, desto häufiger kam es vor, dass Tom plötzlich still wurde oder „dringend etwas erledigen“ musste. Ein Wochenende zu zweit bedeutete für Tom eine Tortur. Das bedeutete, dass er ununterbrochen bei Julia sein musste, und die Rolle eines guten Partners spielen musste. Und je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, desto mehr wuchs sein Frust, nicht „er selbst“ sein zu dürfen, und seine Angst, dass sie erkennen könnte, dass er „nicht genug“ ist.
Die Wahrheit war: Tom schämte sich für bestimmte Aspekte seiner Persönlichkeit, die er lieber verbarg. Und je mehr Julia ihn lobte oder ihm ihre Liebe zeigte, desto stärker wurde seine Angst, dass sie ihn eines Tages durchschauen würde. Also entschied er sich unbewusst dafür auf Distanz zu gehen, bevor das passieren konnte.
Wege aus dem Kreislauf von Bindungsangst und Scham
Wie kannst du diesen Kreislauf durchbrechen? Der erste Schritt besteht darin, die Scham zu erkennen und sie zu entwaffnen. Es mag schwer sein, aber es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass jeder Mensch Schwächen hat – auch du. Doch das macht dich nicht weniger liebenswert.
Selbstakzeptanz üben:
Der erste Schritt zur Überwindung von Scham ist die Akzeptanz deiner selbst. Erkenne deine eigenen Unsicherheiten und Ängste an und verstehe, dass sie dich nicht weniger wertvoll machen. Je mehr du dich selbst akzeptierst, desto weniger wirst du Angst davor haben, dass dein Partner dich „entlarven“ könnte.
Offen über deine Ängste sprechen:
Kommunikation ist der Schlüssel. Teile deinem Partner mit, wie du dich fühlst. Es kann befreiend sein, zuzugeben, dass du Angst hast, nicht gut genug zu sein. Oft führt dies zu tieferen Gesprächen, mehr Verständnis und echter Intimität in der Beziehung.
Bewusst Nähe zulassen:
Auch wenn es sich unangenehm anfühlt, versuche bewusst, in Momenten der Nähe präsent zu bleiben. Erlaube dir, diese Erfahrung zu machen, ohne gleich in alte Vermeidungsstrategien zu verfallen. Je öfter du das übst, desto leichter wird es.
Das richtige Maß:
Scham ist nicht auf unsere Fehler ausgerichtet, sondern wirkt wie ein Spiegel. Wie du das was du siehst bewertest, ist deine geprägte Interpretation von richtig oder falsch. Versuche bewusst, die guten Seiten an dir zu erkennen, und die vermeintlichen Schwächen zu akzeptieren. Wie würdest du deine Fehler bei einem guten Freund bewerten? Werde dein eigener bester Freund, statt dein schärfster Kritiker.
Fazit: Scham entwaffnen, Bindung zulassen
Scham und Bindungsangst sind wie unsichtbare Schatten, die über deinen Beziehungen schweben und verhindern, dass du jene Nähe erfährst, nach der du dich eigentlich sehnst. Aber wenn du erkennst, dass diese Gefühle nicht die Realität widerspiegeln, sondern tief verwurzelte kindliche Ängste, kannst du anfangen, ihnen die Macht zu nehmen.
Es ist kein leichter Weg, aber er ist der Schlüssel zu einer erfüllten, echten Beziehung. Denn nur wenn du dich selbst annehmen kannst, wie du bist, kannst du auch die Nähe zulassen, die du dir insgeheim wünschst.
Dein Uwe
Themenstruktur "Selbstbewusstsein stärken"
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