
Wenn Nähe Angst macht – warum wir immer Gründe finden, um uns nicht einlassen zu müssen
„Ich kann mich einfach nicht einlassen…“
Anna sitzt auf ihrer Couch und starrt auf ihr Handy. Eine Nachricht von Daniel leuchtet auf: „Ich denke an dich. Wann sehen wir uns wieder?“
Ein liebevolles, harmloses „Ich freue mich auf dich.“ Und doch schnürt es ihr die Kehle zu. Sie spürt den Drang, Abstand zu schaffen.
Plötzlich wirkt Daniel weniger interessant. Vielleicht passt es doch nicht? Vielleicht ist er nicht der Richtige? Sie scrollt durch alte Chats und sucht nach etwas, das sie stört. Ein unpassender Kommentar, eine Unsicherheit – irgendetwas, das ihr erlaubt, einen Grund zum Gehen zu finden, bevor es zu spät ist.
Denn tief in ihr sitzt eine unbewusste Überzeugung:
Wer sich zuerst zurückzieht, wer den anderen infrage stellt, wer den ersten Schritt aus der Beziehung macht – behält die Kontrolle. Doch wenn man sich einlässt und vertraut – und dann verlassen wird – dann fühlt sich das an wie strerben.
Warum wir unsere Beziehung sabotieren, bevor sie zu nah wird
Viele Menschen mit Bindungsangst erleben genau das: Die Angst, sich nicht einlassen zu können, weil es bedeutet, verletzlich zu sein.
In der Theorie wünschen sie sich Nähe, Vertrauen und Liebe. Doch sobald die Möglichkeit da ist, werden sie von Zweifeln überrollt:
„Ist das wirklich das, was ich will?“
„Irgendwas fühlt sich komisch an…“
„Vielleicht passt es doch nicht so gut.“
„Was, wenn es später wehtut?“
Das Gehirn beginnt, Fehler zu suchen, Probleme zu erfinden – einfach nur, um einen Grund zum Rückzug zu haben.
Denn wer zuerst geht, wird nicht verlassen. Wer sich nicht einlassen muss, kann nicht verletzt werden.
Der wahre Grund hinter der Angst, sich nicht einlassen zu können
Hinter diesem Mechanismus steckt oft eine tiefe, unbewusste Angst:
Angst vor emotionaler Abhängigkeit:
Vielleicht hast du in deiner Kindheit erlebt, dass Nähe schmerzhaft oder unsicher war. Dass Bindung mit Verlust, Zurückweisung oder Kontrolle verbunden war.
Angst vor Enttäuschung:
Vielleicht hast du gelernt, dass Beziehungen immer wehtun. Dass sich Hoffnungen nicht erfüllen. Und dass es deshalb sicherer ist, gar nicht erst zu investieren.
Angst, sich selbst zu verlieren:
Wenn du in früheren Beziehungen (oder in der Familie) nicht du selbst sein durftest, kann Nähe heute bedrohlich wirken. Denn Nähe bedeutete damals Anpassung, Aufopferung, Enge.
Und so erschafft das Gehirn eine vermeintliche Lösung: Selbstsabotage.
- Lieber zu früh hinterfragen, als später enttäuscht zu werden.
- Lieber Gründe zum Gehen finden, als sich verletzlich zu machen.
- Lieber die Kontrolle behalten, als sich einzulassen.
- Lieber einen unzuverlässigen Partner daten, als einem Zuverlässigen zu vertrauen, und unvorbereitet verlassen zu werden.
Doch das Problem ist: Wer sich nicht einlassen kann, erlebt immer wieder dieselben Muster.
Wie du aus dem Muster aussteigen kannst
Wenn du dich in diesen Mechanismen wiedererkennst, gibt es gute Nachrichten: Du kannst lernen, dich nicht von deiner Angst steuern zu lassen.
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Erkenne dein eigenes Muster
Der erste Schritt ist, bewusst wahrzunehmen, wann und wie du beginnst, eine Beziehung zu sabotieren.
Frage dich:
- Welche Momente triggern meine Zweifel?
- Welche Gedanken habe ich, bevor ich mich zurückziehe?
- Habe ich in anderen Beziehungen ähnliche Muster erlebt?
Allein die Erkenntnis, dass diese Muster aus Angst entstehen – nicht, weil dein Partner „nicht gut genug“ ist – kann helfen, bewusster damit umzugehen.
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Bleib, wenn du gehen willst
Ein radikaler, aber wirksamer Ansatz: Bleib, wenn dein erster Impuls ist zu gehen.
Wenn du das Gefühl hast, dich zurückziehen zu wollen, statt eine vorschnelle Entscheidung zu treffen, versuche Folgendes:
Atme tief durch und gib dir 72 Stunden Zeit, bevor du handelst.
Teile deine Gedanken mit einer vertrauenswürdigen Person, bevor du dich distanzierst.
Frage dich: „Will ich gehen, weil es wirklich nicht passt – oder weil ich Angst habe, mich nicht einlassen zu können?“
Oft merkt man, dass die eigenen Zweifel und Ängste mit der Realität wenig zu tun haben.
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Lerne, deine eigene Unsicherheit auszuhalten
Es ist okay, Angst vor Nähe zu haben. Es ist okay, Zweifel zu spüren. Doch Nähe bedeutet nicht automatisch Gefahr.
Anstatt vor der Unsicherheit davonzulaufen, kannst du lernen, mit ihr zu sein. Zum Beispiel:
- Indem du deine Gefühle in einem Tagebuch reflektierst.
- Indem du mit deinem Partner sprichst, bevor du dich zurückziehst.
- Indem du dir erlaubst, dich langsam einzulassen – Schritt für Schritt.
Denn echte Nähe entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen. Und Vertrauen wächst, wenn du trotz Angst bleibst.
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Frage dein erwachsenes Ich
Gibt es einen guten rationalen Grund, um zu gehen. Höre tief in dich rein: Spricht da dein verletztes Kind aus Angst vor Verletzung, oder gibt es objektive Gründe für deine Zweifel.
Die Angst vor Verletzbarkeit stammt sehr wahrscheinlich aus deiner Kindheit, und hat mit dem aktuellen Partner nichts zu tun.
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Lerne, dir selbst zu vertrauen
Verlustängstliche Menschen setzen das „verlassen werden“ sinnbildlich mit ihrem Ende gleich. Vertraue darauf, dass du eine Trennung überleben wirst. Stelle dir das Verlassenwerden bildlich vor, und visioniere diesen Gedanken in allen Einzelheiten.
Wie fühlt es sich während der Trennung an?
Wie fühlt es sich nach zwei Wochen an, und wie kannst du gut für dich sorgen?
Wie geht es dir nach zwei Monaten, und wer ist in deinem Leben präsent?
Wenn die Verlust-Situation ihren Schrecken verliert, fällt es dir leichter, dich wirklich einzulassen.
Fazit: Kontrolle ist eine Illusion – wahre Sicherheit entsteht in dir
Wer zuerst verlässt, behält die Kontrolle. Doch nur für einen Moment. Denn auf lange Sicht bleibt die Einsamkeit.
Wenn du immer wieder Beziehungen hinterfragst und dich nicht einlassen kannst, frage dich: Was würde passieren, wenn ich es trotzdem wage?
- Was, wenn Liebe nicht bedeutet, die Kontrolle zu verlieren?
- Was, wenn Nähe nicht bedeutet, sich aufzugeben?
- Was, wenn eine Beziehung mit all ihren Unsicherheiten dennoch ein sicherer Ort sein kann?
Der erste Schritt beginnt mit einer Entscheidung: Bleiben, wenn du gehen willst. Dich zeigen, wenn du dich verstecken willst. Und Vertrauen aufbauen, wenn du am liebsten flüchten würdest.
Denn wahre Kontrolle bedeutet nicht, immer den Ausweg zu wählen – sondern bewusst zu entscheiden, wo du wirklich sein möchtest.
Dein Uwe
P.S. Zu vielen Themen gebe ich ganz private Einblicke in mein Leben und mein Learning. Falls dich das interessiert klicke unten auf den roten Button „+ Wie das Thema der Woche mich betrifft“
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