Gefangen in der Scham: Warum Erkenntnis allein nicht reicht, um sich zu befreien.

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Steht es dir zu, dich zu entwickeln?

Du sitzt da, mitten im Chaos deiner Beziehung, und plötzlich fällt es dir wie Schuppen von den Augen: „Ich muss mich gar nicht dauernd verbiegen oder Bedingungen erfüllen, um geliebt zu werden!“ oder „Ich bin doch nicht alleine dafür verantwortlich, dass diese Beziehung gelingt!“ Du weißt es. Du fühlst es in diesem Moment klar. Doch kaum möchtest du danach handeln, zieht sich alles in dir zusammen. Wie eine unsichtbare Kette hält dich etwas zurück, doch was ist das für ein Gefühl? Dieses Gefühl, dass es dir nicht zusteht – und was selbst den Gedanken daran unerträglich macht, einfach zu dir zu stehen?

Es ist Scham – dieser lähmende, unbarmherzige Schatten, der uns davon abhält, die Brücke zwischen Erkenntnis und wirklichem Fühlen zu schlagen. Scham ist der Wächter, der uns im alten System hält, selbst wenn wir längst begriffen haben, dass es uns nicht mehr dient. Die Scham ist dieses unliebsame Gefühl, das keiner haben will, und welches gerade Bindungsängstliche Menschen auf Schritt und Tritt begleitet.

 

Die lähmende Kraft der Scham

Scham ist viel mehr als ein unangenehmes Gefühl – sie ist ein stiller Saboteur. Sie taucht nicht als lautes „Nein“ auf, sondern schleicht sich in unser Denken und Handeln ein. Ihr flüsterndes Mantra ist subtil, aber mächtig:

  • „Du bist nicht (gut) genug.“
  • „Wer bist du, so etwas zu behaupten? Das steht dir nicht zu!“
  • „Wenn du das wirklich tust, wirst du abgelehnt und verlassen.“

Für bindungsängstliche Menschen ist Scham besonders toxisch, da diese Angst häufig aus einem Grundgefühl von Unzulänglichkeit stammt. Schon früh haben wir gelernt, dass wir uns anpassen, leisten oder zurückziehen müssen, um in der Beziehung zu unseren primären Bezugspersonen emotional überleben zu können. Die Botschaft war: „So wie du bist, bist du nicht genug.“

Wenn heute die Erkenntnis „Ich bin liebenswert ohne Bedingungen“ auftaucht, stößt sie direkt auf diese tiefe Scham-Barriere. Der innere Wächter interveniert: „Das mag ja logisch klingen, aber fühl das bloß nicht – es ist nicht sicher!“

 

Beispiele: Wie Scham wirkt 

Annika und das unerreichbare Gefühl

Annika hat sich selbst jahrelang klein gemacht, um ihren Partner nicht zu überfordern. Ihr Coach sagte eines Tages: „Du bist nicht allein für die Beziehung verantwortlich.“ Annika verstand den Satz sofort – doch in einem späteren Streit fühlte sie sich wieder verantwortlich für jede seiner Launen. Als sie das Thema ansprechen will zieht sich alles in ihr zusammen. Was sie fühlt und glaubt ist: „es steht mir nicht zu, mich mit meinen Belangen zuzumuten und die Harmonie zu stören, ich mache das wie immer mit mir selbst aus!“

Woher kommt dieser tiefe innere Glaube? Es ist die Scham, die sie schon als kleines Kind spürte – ich muss ein braves Mädchen sein, um geliebt zu werden. Dieser tief im Unterbewusstsein verankerte Glaubenssatz überschattet ihre rationale Erkenntnis. Eine tief verankerte Stimme in ihr flüsterte: „Wenn du dich und deine Bedürfnisse zeigst, wirst du verlassen.“

Paul und die Angst vor Wertlosigkeit

Paul wollte nach Jahren endlich glauben, dass er so wie er ist, liebenswert ist. Unabhängig davon, ob er den Erwartungen einer Beziehung gerecht wird oder nicht. Als er sich das vor dem Spiegel laut sagte, fühlte sich das wie eine Lüge an. Die Scham in ihm wehrte sich, mit Gedanken wie: „Das sagst du jetzt, aber schau doch, wie leer dein Leben ohne eine Beziehung aussieht. Niemand darf je erfahren, wie unperfekt du wirklich bist.“

Seine Erkenntnis scheiterte daran, dass die Scham seine alte Strategie aktivierte: Gefühle und Bedürfnisse unterdrücken, hart arbeiten, nie Schwäche zeigen.

 

Woher diese Scham kommt

Scham entstand häufig in der frühen Kindheit, als wir das Gefühl hatten, unseren Eltern nie genügen zu können. Ein Kind spürt die Traurigkeit oder Überforderung der Mutter und glaubt: „Ich bin schuld.“ Ein bindungsängstliches Kind lernt daraus, sich unauffällig, pflichtbewusst oder perfekt zu verhalten, um keine zusätzliche Belastung zu sein. Es lernt die Gefühle anderer höher zu gewichten als die eigenen. „Wenn ich dafür sorge, dass es den anderen gut geht, werde ich weniger abgelehnt. Es liegt in meiner Verantwortung!“

Im Erwachsenenalter führt diese Scham zu einem Glaubenssatz, der sich unbewusst, aber übermächtig zwischen Erkenntnis und tatsächlichem Fühlen schiebt: „So wie ich bin, reicht es nicht.“

 

Wie wir aus der Schamfalle entkommen

Scham zu überwinden bedeutet, alte Schutzmechanismen bewusst wahrzunehmen und sanft zu hinterfragen. Hier sind einige Ansätze:

Selbstmitgefühl statt Selbstkritik

Scham wird oft mit Kritik verstärkt: „warum kriege ich es nicht endlich hin? Ich bin ein Versager!“ Tausche diese Kritik durch Mitgefühl: „Ich habe als Kind diesen Schutzmechanismus entwickelt, um sicher zu sein. Heute brauche ich ihn vielleicht nicht mehr.“

Das innere Kind sehen

In Momenten der Scham liegt oft das verletzte innere Kind in uns, das nach Bestätigung sucht. Stell dir dieses Kind vor und sag dir: „Es ist in Ordnung, dich nicht genug zu fühlen – aber ich bin jetzt für dich und für mich da. Ich bin stolz auf dich, wie du das damals gemeistert hast. Ich liebe dich und passe von nun an auf uns auf.“

Gefühle durch Körperarbeit integrieren

Erkenntnis wird erst lebendig, wenn Körper und Geist sie akzeptiert. Atemübungen, Bewegung oder sanfte Berührung können helfen, das Gefühl der Liebenswürdigkeit oder Gleichberechtigung zu verankern. Fühle und sehe den Unterschied im Spiegel, in einer Situation, in der du vollkommen mit dir im reinen bist – oder wenn du deinen Selbstzweifeln erliegst.

Übung in kleinen Schritten

Große Schritte sind für die Scham oft zu bedrohlich. Beginne mit kleinen Entscheidungen, die deiner Erkenntnis entsprechen – etwa ein „Nein“ zu einer kleinen Anfrage, wenn es dir nicht gut damit geht. Gönne dir eine Pause wenn du das Bedürfnis danach fühlst, und übe, dies mit gutem Gewissen zu tun.

Begleitung suchen

Ein Coach oder Therapeut hilft dir dabei, deine Scham zu durchleuchten und Muster aufzubrechen, die dich blockieren. Ein geschützter Raum gibt dir die Möglichkeit, alte Überzeugungen sicher zu hinterfragen. Ein Coach wird dich auch auffangen und begleiten, wenn auf neuen Wegen die ersten Widerstände und Zweifel aufkommen, die dich gewöhnlich zu alten Mustern zurückzwingen.

 

Die Freiheit hinter der Scham

Wenn wir Scham erkennen und hinterfragen, öffnet sich ein neuer Raum. Plötzlich kann sich das Wissen „Ich bin liebenswert“ auch wirklich fühlbar anfühlen. Plötzlich ist es möglich, eine Beziehung nicht mehr allein tragen zu müssen. Plötzlich verändert sich das Leben, weil die Ketten der Vergangenheit abfallen.

Der Prozess ist nicht immer leicht, doch die Freiheit dahinter ist unermesslich. Stell dir vor, wie es wäre, wenn du wirklich glauben könntest: „Ich bin genug und liebenswert, so wie ich bin.“ Wie verändert sich dein Leben? Und was verändert sich in deiner Beziehung? Kannst du das fühlen? Die Scham will dich schützen – aber sie hält dich nur fest. Es liegt an dir, dieses Schloss zu öffnen.

Mach dir dein Leben schön

Dein Uwe

 

P.S. Zu vielen Themen gebe ich ganz private Einblicke in mein Leben und mein Learning. Falls dich das interessiert klicke unten auf den roten Button „+ Wie das Thema der Woche  mich betrifft“

Die Scham begleitet mich durch mein ganzes Leben, und hat eine unglaubliche Macht auf meine Lebensqualität. Obwohl sie so präsent war habe ich diese Scham nie wahrgenommen. Sie war und ist noch immer ein Teil von mir, fest verbunden mit meiner Realität.

Sie war so tief in mir verwurzelt, dass ich sie erst nach ca. 10 Jahren Persönlichkeitsarbeit erkannt habe. Allein das erkennen, hat vieles verändert. Die Erkenntnis, wie krass sie mein ganzes Leben bestimmt, hat mich erstmal schockiert. Mein ganzes Denken, Fühlen und Handeln war vom Grundgedanken der Scham durchzogen: „ich bin falsch“.

Das Gefühl, mir meine Daseinsberechtigung verdienen zu müssen, setzt sich in allen Lebensbereichen fort. Die Idee, dass meine Werte, Gefühle und Bedürfnisse genauso berechtigt sind, wie die meiner Mitmenschen, hat sich mir zwar logisch erschlossen, aber fühlen konnte ich das bestenfalls wenn ich alleine war.

Häufig geht mit dem Schamgefühl ein hohes Harmoniebedürfnis einher, und so war es auch bei mir. Ich bin also nicht nur falsch – es steht mir auch nicht zu, mich zu wehren, oder für Gerechtigkeit mir gegenüber einzutreten.

Grenzen zu setzen fühlte sich für mich immer bedrohlich an, obwohl ich erkannte, wie Lebensnotwendig das ist. Da mir offensichtlich auch dies nicht zustand, lernte ich, innere Grenzen zu setzen. Ich hielt die Übergriffe aus, lies sie aber nicht an mein innerstes heran.

Mit dieser Realität wurde ich Vater, und natürlich habe ich damit auch meine Tochter geprägt. Ich habe da vieles falsch gemacht, vorgelebt und interpretiert. Zum Glück konnte ich in den letzten Jahren einiges wieder auffangen.

Was die Scham so unberechenbar und unsichtbar macht, ist, dass wir nicht nachfragen. Wenn jemand über unsere Grenzen geht, wissen wir, dass es an uns liegt, dass es uns nicht zusteht, Stellung zu beziehen und dass ein Nachfragen die vermeintliche Harmonie stören würde. Wir interpretieren statt ein klärendes Gespräch zu führen. Und egal ob im Ergebnis wir selbst, oder der andere Schuld ist, wir richten all unsere Zweifel und die Wut gegen uns selbst.

Was ich auch heute noch wahrnehme ist die „Scham vor der Scham“. Ein Phänomen, dass anders als die „Angst vor der Angst“, in der Fachwelt kaum Beachtung findet. Ein Beispiel: Ich konnte eine falsche Annahme über mich selbst bis tief ins Gefühl auflösen, und bin heute auf dem Stand, „Ich bin ok, und kann mich zeigen wie ich bin“. Dies hat eine positive Verhaltensänderung zur Folge, die im Außen gesehen wird. Und diese Verhaltensänderung erfüllt mich nun mit Scham. Selbst das entwickeln steht mir nicht zu, oder zumindest darf es keiner merken.

Wo nimmst du dich selbst viel zu wichtig, und glaubst alle schauen nur auf dich?

Wie viel Leben gönnst du dir nicht, weil du es dir nicht zusteht, oder andere das bewerten könnten?

Was würde sich alles verändern, wenn du zu dir und deinen Bedürfnissen stehen könntest?

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Valentina

    Lieber Uwe, danke für Deine wertvollen Inspirationen! Viele liebe Grüße Valentina

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